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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 26.09.2010


Shahada - Glaubensbekenntnis und -konflikte
Evelyn Gaida

Wer bist du? Wen liebst du? Woran glaubst du? Der afghanischstämmige Nachwuchsregisseur Burhan Qurbani stellt in seinem Diplomfilm große Fragen in der Auseinandersetzung mit dem Islam und liefert...




... einen Episodenfilm, der um existenzielle Konflikte kreist. Die drei in Berlin lebenden Hauptcharaktere Maryam, Samir und Ismail werden durch einschneidende Ereignisse aus der Bahn geworfen und müssen einen völlig neuen Zugang zu sich selbst, ihrem kulturell gespaltenen Dasein, ihrer Umwelt und ihrem Glauben finden.

"Shahada" ist das islamische Glaubensbekenntnis und die erste der fünf Säulen des Islam. Die anderen vier Säulen bilden als Kapitelüberschriften den Subtext zur Handlung des Films, die somit in einen spirituellen Zusammenhang gestellt wird und das Gegenwärtige als aktuelle Ausgestaltung des Zeitlosen betrachtet. Die kunstvollen Überschneidungen des Vorspanns werden von einer Musik begleitet, die von weit her zu kommen scheint: Ist hier der Meeresgrund zu sehen oder sind es die ineinanderfließenden Farben eines Aquarells?

Qurbani nähert sich den aufgewühlten Emotionen seiner ProtagonistInnen durch eine skizzenhafte, ausdrucksstarke Bildsprache und eine teils elementare Metaphorik. Das kulturelle Grenzland, in dem sich diese MuslimInnen bewegen, drückt sich auch im vorherrschenden grünlich-bläulichen Licht aus, das die Szenen einhüllt, als spiele sich die Handlung in der "blauen Stunde" zwischen Tag und Nacht ab. Trotz erzählerischer Schwächen findet der Regisseur so zu einer expressiven und oft ergreifenden Herangehensweise. Der Film enthält weder eine (integrations-)politische Botschaft, noch eine ideologische, sondern findet kraft seiner Bilder und des intensiven Spiels der HauptdarstellerInnen einen sehr persönlichen Zugang zur Problematik seiner Figuren, die dennoch keine rein individuelle bleibt.

Die Story klingt konstruiert, erhält auf diese Weise aber emotionales Gewicht und Vielschichtigkeit: Maryam (Maryam Zaree) ist die Tochter des toleranten und aufgeklärten Berliner Geistlichen Vedat (Vedat Erincin), der eine muslimische Gemeinde leitet. Das Leben der unternehmungslustigen und freizügigen jungen Frau gerät völlig aus den Fugen, als sie ungewollt schwanger wird und das Kind mit einer illegalen Pille abtreibt. Ausgerechnet in einem Nachtclub setzt die Wirkung ein und führt zu einem Drama auf der Toilette, das die ohnehin extreme Situation an dieser Stelle unnötig ins Überzogene schraubt. Die andauernden starken Blutungen hält Maryam in ihrer Verzweiflung für eine Strafe Gottes und wendet sich daraufhin einem radikalen Glaubensverständnis zu.

Der Nigerianer Samir (Jeremias Acheampong) ist Sohn einer streng gläubigen, alleinerziehenden Mutter (Yolette Thomas) und Koranschüler in Vedats Moschee. Im Großmarkt arbeitet er mit Daniel (Sergej Moya) zusammen, der aufgrund seiner Homosexualität von Sinan (Burak Yigit), einem Mitschüler Samirs aus dem Koranunterricht, ständig auf das Übelste beschimpft und drangsaliert wird. Samir stürzt in eine heftige, glaubensbedingte Krise, als Daniel sich in ihn verliebt und er dessen Gefühle erwidert. Er legt Daniel gegenüber eine wütende Abwehrhaltung an den Tag, die nur von kurzen Momenten zaghafter und sehnsüchtiger Annäherung durchbrochen wird.

Ismail (Carlo Ljubek) ist ein türkischstämmiger Polizist, der mit einer deutschen Ärztin (Anne Ratte-Polle) verheiratet ist und mit ihr ein Kind hat. Der Islam spielt für ihn keine bedeutende Rolle, doch auch er sieht sich einer lebensentscheidenden Situation ausgesetzt. Während einer Razzia begegnet er Leyla (Marija Škaricic) wieder, deren Sohn er bei einem Dienstunfall versehentlich erschossen hatte. Der innere Drang, Leyla helfen zu müssen, entfernt ihn immer mehr von seiner Familie.

Neben der einfühlsamen Darstellungsweise liegt die besondere Qualität des Films darin, dass alternative Denkanstöße, aber keine Antworten gegeben werden. Qurbani zeigt seine Hauptfiguren als Fische auf dem Trockenen, die angesichts existenzieller Fragen gerade in dogmatischen Regelwerken keine tragbaren Lösungen finden. Er schreitet eine Grenze menschlichen Begreifens ab, die sich auch durch Religion nicht überwinden lässt. Der Koran wolle "uns anleiten und Trost spenden, aber er kann uns nicht sagen, wer wir sind und wie wir zu uns stehen", so Vedat. Die Kommunikation des Geistlichen mit seiner Tochter misslingt jedoch – sie bleibt mit ihrem Gewissenskonflikt allein. Den emotionalen Zündstoff dieser Glaubens- und Identitätskrisen hinterlegt Qurbani dennoch mit einer Spiritualität, die sich sowohl der regulierenden Fremdbestimmung als auch der Beliebigkeit entzieht, aber in der Bildlichkeit, dem Soundtrack und der verzweifelten Suche der Hauptfiguren ihren Ausdruck findet. Für welchen Weg die ProtagonistInnen sich letztlich entscheiden werden, bleibt offen.

AVIVA-Tipp: "Shahada" ("Glaubensbekenntnis") eröffnet brachliegendes Terrain: Der Episodenfilm betrachtet die Glaubens- und Identitätskonflikte seiner Hauptfiguren, drei junge Menschen in Berlin mit muslimischem Hintergrund, nicht aus einer (integrations-)politischen oder ideologischen Perspektive, sondern als intime und oft sehr berührende Auseinandersetzung mit Islam und Spiritualität. Die starke Bildsprache und das intensive Spiel der HauptdarstellerInnen wird zudem mit einem gefühlvollen Einblick in den Alltag von MuslimInnen in Deutschland verbunden.

Zum Regisseur: Burhan Qurbanis Eltern mussten 1979, einen Tag vor dem Einmarsch der Roten Armee, aus Afghanistan nach Deutschland fliehen und erhielten dort politisches Asyl. Nach seinem Abitur 2000 in Stuttgart sammelte er Erfahrungen am Theater. 2002 trat er sein Studium der Spielfilm-Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg an. Burhan Qurbanis Kurzfilme wurden unter anderem mit dem Preis der Deutschen Filmkritik 2008 für "Illusion" ausgezeichnet sowie der "Black Pearl" als "Best Upcoming Filmmaker Of The Year" im selben Jahr.
"Shahada", Burhan Qurbanis erster abendfüllender Spielfilm, gewann im Rahmen der 60. Internationalen Filmfestspiele Berlin den Preis der Gilde deutscher Filmkunsttheater und im August 2010 den First Steps Award in der Kategorie "Sonderpreis Kamera". Es folgten der Hessische Filmpreis als "Bester Spielfilm", der "Gold Hugo" als bester Nachwuchsregisseur beim Chicago Film Festival und "Best Leading Performance" beim Monterrey Film Festival in Mexiko für Maryam Zaree, die beim Internationalen Filmfestival in Gent/Belgien auch eine "Besondere Erwähnung als beste Schauspielerin" erhielt.

Shahada
Deutschland 2009
Buch und Regie: Burhan Qurbani
DarstellerInnen: Carlo Ljubek, Maryam Zaree, Jeremias Acheampong, Marija Å karicic, Vedat Erincin, Sergej Moya, Anne Ratte-Polle u.a.
Verleih: 3Rosen
Lauflänge: 90 Minuten
Kinostart: 30. September 2010

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.shahada-der-film.de

www.facebook.com/shahadafilm

www.3rosen.com

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Beitrag vom 26.09.2010

Evelyn Gaida